Wir können die Null auf zweierlei Arten betrachten, rein mathematisch oder auf der philosophischen, auch spirituellen Ebene. In der Mathematik gibt es die Null eigentlich gar nicht. Sie ist keine Zahl, sondern genau genommen eine Leerstelle, eine nulla figura (keine Ziffer). Sie ist in der Mathematik die Schnittstelle zwischen den positiven und den negativen Zahlen.
Im Ursprung der Zahlen hierzulande fand sich keine Null. Die Römer kannten sie nicht, die Griechen ebensowenig. Erst im 12. Jahrhundert hielt sie in Europa Einzug. Die Babylonier, auch die Maya und Inder kannten das „Nichts“ aber durchaus, dessen Existenz es in Europa wohl an Verständnis mangelte. In Indien wurde schon 300 v. Chr. mit der Null gerechnet, wie alte Handschriften zeigen.
Was aber ist die Null?
Ist sie einfach nichts? Nun, addieren wir zu einer beliebigen Zahl die Null hinzu, so ändert sich an dieser Zahl rein gar nichts. Ebenso ist es, wenn wir von irgendeiner Zahl die Null abziehen. Es wird nichts vermehrt und nichts vermindert. Sie scheint also tatsächlich Nichts zu sein. Hänger wir aber irgendeiner beliebigen Zahl eine Null hinzu, so wird ihr Wert größer.
3 – 30 – 300 – 3000 – 30000 – 300000 – 3000000
Das können wir so lange weiterführen, bis wir in unermesslichen Dimensionen ankommen. Die Null strebt in diesem Fall nach der Unendlichkeit.
Bleiben wir noch kurz bei einer mathematisch nicht ganz korrekten Spielerei. Die Null und die Unendlichkeit können also eng beieinander liegen. Auf die Null folgt die Eins, sie ist also ALLES was vor der Eins liegt. Teilen wir die 1 durch sich selbst, so bleibt es bei der Eins. Fügen wir der Eins eine Null an und teilen wir sie durch die 10, so erhalten wir 0,1. Führen wir das. beliebig fort.
1/1 = 1
1/10 = 0,1
1/100 = 0,01
1/1000 = 0,001
1/10000 = 0,0001
1/100000 = 0,00001
1/1000000 = 0,000001
Je weiter wir das führen, je näher kommen wir der Null. Wir könnten es also bis in die Unendlichkeit aufschreiben. Das heißt:
1/∞ = 0
Teilen wir die Eins durch die Unendlichkeit, so erhalten wir die Null.
1/0 = ∞
Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass wir die Unendlichkeit erhalten, wenn wir die Eins durch die Null teilen.
1/∞ = 0 = 1/0 = ∞
Nichts = Unendlichkeit
Das ist natürlich nur eine Metapher, die Gleichung wäre in der Mathematik nicht gültig. Es führt uns aber eine Eigenschaft der Null ganz gut vor Augen. Sie ist alles und nichts zugleich. Sie ist vollkommen unbegrenzt und frei, wie der Narr im Tarot, der die Null als Zahlenwert besitzt.
Gehen wir einmal weg von dem Versuch, die Null rein mathematisch begreifen zu wollen. Wenden wir uns den spirituellen, theologischen und philosophischen Sichtweisen zu.
Die geistige Essenz der Null
In Theologie und Philosophie wird die Null als erster „göttlicher“ Grund begriffen. Was aber ist damit gemeint?
Stellen wir uns doch die Null einmal als ein vollkommen leeres Blatt Papier vor. Dieses Blatt enthält scheinbar nichts und kann doch alles sein. Wir können ganz bewusst unseren Willen formen und zu Papier bringen, was immer wir wünschen. Sei es ein Gedicht, eine mathematische Formel, ein Gesetz oder auch ein Gemälde. Wir können aber auch aus dem Nichts heraus etwas schaffen, wie beispielsweise beim intuitiven Zeichnen.
In der Theologie ist die Null eng mit dem Schöpfungsmythos verknüpft. Sie ist der Ursprung des Ursprungs. Der kosmische Urzustand, ehe er sichtbar wurde, das leere Blatt Papier, das ALLES und das NICHTS vor der Eins.
Es ist der Zustand vor dem Urknall, der zugleich Leere und Fülle enthält. Ehe alles EINS wird, ist das die LEERE, die ALLES enthält.
In der jüdischen Kabbalah „Tohuwabohu“ genannt. Die Null ist dort das „Ayn Soph“, das unbegrenzte, nicht manifestierte Licht, aus dessen Uranfang alles durch die Begrenzung hervorging. Die unbegrenzte Null manifestiert sich in der begrenzten Eins.
Die Form ist oval, wie das Welten-Ei, dass in vielen Kulturen der Schöpfungsmythologie zugrunde liegt. Aus diesem kosmischen Ei schlüpft das Universum.
In Indien ist die Null auch das OM. Sprechen wir diesen Urlaut, so formt unser Mund ein Oval. Om ist das ursprüngliche Wort, dass alles enthielt, das Wort vor der Eins sozusagen.
Heriod, ein griechischer Philosoph, bezeichnet diesen Urzustand der Schöpfungsgeschichte als Chaos, als gähnende Leere. Die christliche Genesis spricht von wüst und leer.
Allen gemein ist, dass in der Null, im Nichts alles existiert ohne einen Namen zu haben, alles Sein und alles nicht Sein ist vorhanden, bereit sich zu formen.
An noch ein Symbol aus Mythologie und Philosophie erinnert die Null, an den Ouroboros.
Der Ouroboros
Du hast gewiss schon einmal die Darstellung von Schlangen und schlangenartigen Wesen gesehen, die sich im Kreise drehend selbst in den Schwanz beißen. In der nordischen Mythologie kennen wir es von der Midgardschlange.
Der älteste Ouroboros ist auf einem der Schreine zu finden, die rund um den Sarkophag des Tutanchamun aufgestellt sind. Diese Darstellung taucht sehr oft in der sogenannten Zauberpapyri des hellenistischen Ägyptens auf. Es ist ein Symbol der kosmischen Einheit, der Alleinheit, dem Ἓν καὶ Πᾶν – hen kai pan“.
Das findet sich auch in einem der hermetischen Prinzipien. Oben ist gleich unten, der Makrokosmos ist gleich dem Mikrokosmos. Es ist das zweite Prinzip des Kybalions. Der Ouroboros komm am Ende seiner Reise immer wieder am Anfang, also bei sich selbst an.
Wir gehen aus der Null hervor, wir wandeln uns aus ihr, schöpfen aus ihr und wir kehren immer wieder zu ihr zurück. Dies ist die Urkraft allen Lebens, dass auch im 1. hermetischen Prinzip mitschwingt: „Das All ist Geist, das Universum ist geistig.“ Alles ist Geist, also alles ist Energie – Energie aus der ALLES entsteht.
Auch Materie ist Energie und selbst wir sind Energie – nichts anderes als sichtbar gewordener, manifestierter Geist. Wir formen mit unseren Gedanken den Geist, also die Energie auf positive, nicht positive, bewusste und unbewusste Art und Weise. Die „Ewige Wiederkunft“ wie Nietzsche den Ouroboros beschreibt.
Platon bezeichnet es als Kugelwesen¹, als erste Lebensform auf Erden. Es sei eine „vom Mittelpunkt aus nach allen Endpunkten gleich weit abstehende Gestalt, die vollkommenste Form.“.
Der Ouroboros kreist um sich selbst, nährt sich von dem, was es ausscheidet. Er braucht keine Wahrnehmung, da ausserhalb seiner selbst nichts existiert.
In der Alchemie ist der Ouroboros ein in sich geschlossener und wiederholt ablaufender Wandlungsprozess der Materie. Fortwährendes Erhitzen, Verdampfen, Abkühlen und Kondensieren einer Flüssigkeit dient der Verfeinerung der Substanzen, es wird – einfach ausgedrückt – das Beste aus sich selbst herausgeholt.
Schlussgedanken
Die Null ist, wie der Ouroboros, sich selbst genug. Es ist die Alleinheit, die das Beste durch stetige Wiederholung gebiert. Sie ist das Om und das Weltenei. Sie ist der erste göttliche Grund. Aus ihr gebiert sich das Leben dieser Welt.
Sie ist die Hüterin aller mystischen Geheimnisse, Trägerin des Urwissens. All dies ist die tiefe Essenz der Null. Alles entsteht aus ihr heraus. Sie ist eine Spirale, die sich in die Unendlichkeit erhebt, weil sie aus der Quelle der Unendlichkeit schöpft.
Wir alle schöpfen aus dieser Quelle, gehen aus ihr hervor, wandeln uns stetig und kehren immer wieder zurück, bereit erneut das Beste aus uns herauszuholen.
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¹) aus dem Dialog Timaios