Die Hohepriesterin ist eine Tänzerin zwischen den Welten. Im Tarot ist ihr die Zwei zugeordnet, was ihren ruhenden Pol inmitten der Dualität unterstreicht. Das ihr zugeordnete Element ist das Wasser, das für die Welt der Gefühle steht. Sie versteht es zu fließen. Es ist, als vollzöge sie dabei zyklische Kreise, ähnlich dem Mond, der ihr als Planet an die Seite gestellt ist.

Auf einigen Decks, wie dem Rider-Waite-Tarot, ruht sie zwischen zwei Säulen. Es sind die Säulen von Jachin und Boas, die den Eingang zum Tempel Salomos schmücken, der einst auf dem Tempelberg in Jerusalem stand. Auch diese Säulen repräsentieren die Dualität und zwischen ihnen sitzt würdevoll und anmutig die Hohepriesterin. Sie ist der Ausgleich, die ruhende Balance zwischen jedweder Polarität.

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Die Hohepriesterin – Hüterin der Schwelle

Die Hohepristerin im Rider Waite TarotMit der Eleganz einer Göttin erscheint sie tief in sich ruhend. Fast immer ist sie mit einer Schriftrolle abgebildet, so auch im Rider-Waite-Tarot – wobei hier die Schriftrolle zusätzlich mit „Tora“ beschriftet ist.

Die Tenach (hebräische Bibel) besteht aus insgesamt fünf Teilen, die Tora ist der erste Teil dieser Schrift. Der Begriff Tora steht aber auch für die Torarolle, einer handgeschriebenen Pergamentrolle, die alle fünf Bücher Moses enthält. Ein Aspekt dieser Tora ist die Kabbalah. Sie ist quasi der fortwährende Atem des lebendigen Judentums, mündlich weitergetragen von Generation zu Generation.

Die Kabbalah trägt in sich den Lebensbaum mit seinen zweiunddreißig Pfaden, in denen viel Weisheit und altes Wissen steckt.

Der Ursprung des Tarot ist unklar. Eine Theorie ist, dass es eben diesem Wissen der Kabbalah entsprang. Wie wahrscheinlich diese Theorie ist? Nun sagen wir mal so, es ist nicht unwahrscheinlich. Vor allem aber ist es in einem hohen Maße interessant.

Die Hohepriesterin im Lebensbaum der Kabbalah

Kabbalah Die HohepriesterinIm Lebensbaum ist der Hohepriesterin der Pfad der Liebe und Einheit zugeordnet, welcher „Gimel“ genannt wird.

Dieser Pfad liegt zwischen „Kether“ und „Tiphareth“. Letztere Sephira (hebr. für Ziffer) liegt stoisch in der Mitte des Baumes. Sie ist der ruhende Punkt im Zentrum aller Dinge, wie auch die Hohepriesterin der Ruhepol zwischen allen Dingen ist. Es ist ein Ort des Gleichgewichtes, des Mitgefühls und auch der Schönheit – die Mitte der Seele.

Der Pfad Gimel führt zu Kether, zur Krone des Baumes. Der Ausgangspunkt jeder Schöpfung. Diese Saphira ist dem höheren Selbst zugeordnet. Kether ist das Ziel der spirituellen Suche.

Gimel ist der 13. Pfad – was mich an die Hohepriesterin und ihren Aspekt als Mondgöttin erinnert. Die Phasen eines Lunarkalenders sind in 13 (Mond-) Zyklen untergliedert.

Es lohnt sich, tiefer in die Lehren der Kabbalah einzutauchen, kommen wir an dieser Stelle aber zur Deutung der Hohepriesterin im Tarot zurück.

Hüterin der Schwelle

Wohin auch immer wir schauen, ob in die kabbalistische Deutung oder den unterschiedlichen Decks im Tarot – die Hohepriesterin ist ein Schwellen-Wesen. Wie auch der Lebensbaum anschaulich zeigt, hält sie die Balance zwischen den irdischen und überirdischen Aspekten des Kosmos – unserer Welt und der Anderswelt, inklusive der Welt unserer Träume.

Sie trägt die Schriftrolle, das alte Wissen. Sie wacht somit über das Ur-Heilige. Die Hohepriesterin kennt das alte Wissen aber nicht nur , sie vermittelt es auch. Dies geschieht auf ihre ganz eigene Art. Ihre Schriftrolle ist nicht offen, sondern zusammengerollt. Sie weiß alles, aber lehrt nicht – jedenfalls nicht so, wie wir es aus unserem Schulsystem kennen.

Manchmal treffen wir auf ganz besondere Menschen. Sie strahlen eine tiefe Ruhe aus. Obwohl nur wenige Worte ihre Lippen verlassen, scheinen sie doch alles zu sagen. Sie strahlen eine Art All-Wissen aus. Dieses Wissen springt wie ein Funke über und plötzlich finden wir in uns selbst die Antworten auf unsere Fragen. Sie sind aus unserer Seelenmitte emporgestiegen. Dies sind tief gehende Momente des Lebens, in denen wir plötzlich alles verstehen und es keiner Worte der Erklärung bedarf.

So wirken die Kräfte der Hohepriesterin. Sie schenkt uns den Schlüssel zu unserem tief verborgenen Wissen.

Als uralte Hüterin zwischen den Welten hat die Hohepriesterin alles gesehen. Sie bewahrt all das Wissen. Sie weiß um die uralten Rituale. Sie kennt das Geheime, das Verborgene. Ihr wissender Blick geht nicht nur zu den Urwurzeln des Lebens zurück, als ruhende Kraft inmitten der Dualität, fließt in ihr auch die Kraft einer Völva, einer Seherin.

Aus der Quelle der Intuition schöpfen

Auch der Magier im Tarot ist ein Träger von Wissen. Während er aber das Wesen der Logik nutzt, greift die Hohepriesterin auf das intuitive Wissen zurück. Sie ist gewissermaßen das Yin zum Yang des Magiers. Das Wissen wird nicht mit dem Kopf ergründet, denn der Weg der Erkenntnis liegt im Inneren. Es ist Zeit, in sich zu gehen und mit dem Herzen zu fühlen. Die Intuition wird über den Verstand gestellt. Der äußere Einfluss hat stillzustehen, der Blick ist nach innen gerichtet.

Unsere Intuition ist immer fließend wie das Wasser. Die intuitive Kraft ist aber auch der Mond am Nachthimmel und wie dieser, leuchtet die Intuition mal hell und mal ist sie durch das Dunkel verhüllt. Mal wird die intuitive Kraft mit leuchtend reflektiert, mal im Verborgenen aufgenommen.

Die Mondkraft der Hohepriesterin

Der, der Hohepriesterin zugeordnete Mond steht auch für tiefe Geheimnisse. Er weiß von unseren (un-)bewussten Ängsten, von dem, was in unseren Schatten liegt. Die Mondenergie scheint unserem tiefsten Selbst zu entspringen. Auf dem Haupt der Hohepriesterin thront in den verschiedenen Decks sehr oft eine Krone, die aus einer Mondsichel besteht, die in sich die Sonne trägt. Welch ein würdevoller Anblick.

Mit der Karte der Hohepriesterin bist auch du aufgerufen, zu dieser inneren Würde zurückzufinden. Schaue auf dich.

Arthur Edward Waite schreibt in seinem Werk von 1911 „Der Bilderschlüssel zum Tarot“ folgendes:

Sie ist der Mond, der mit der Milch der Großen Mutter gespeist wird. Auf eine Weise stellt sie selbst die Große Mutter da.

Die Geheime Kirche

Der Aspekt der Hohepriesterin als Große Mutter taucht öfter auf. Das eben erwähnte Zitat von Waite beginnt zuvor mit folgenden Worten:

Sie wurde als okkulte Wissenschaft an der Schwelle des Heiligtums der Isis bezeichnet, in Wirklichkeit stellt sie jedoch die Geheime Kirche dar, das Haus Gottes und des Menschen.

Aus dieser Betrachtungsweise heraus ist die Hohepriesterin eng an den Marienkult geknüpft. Vielerorten tritt die Heilige Madonna als Geheime Kirche in Erscheinung, nicht wenige Menschen sehen in ihr die göttliche Urkraft. Vielleicht lebt in dieser Figur die alte Urmutter/-göttin der Heiden weiter.

Als Basis für die Marienverehrung wird oft auch die ägyptische Göttin Isis genannt. Wäre dem allerdings so, so wäre das Zitat von Waite ein Paradoxon.

Die Hohepriesterin und ihre ägyptischen Wurzeln

Isis ist sozusagen die Gottesmutter des alten Ägyptens, die Frau von Osiris. Sie ist eine Göttin der Liebe und eine der ältesten Muttergöttinnen der Welt. Sie trägt das Wesen der göttlichen Triade in sich: Jungfrau, Mutter, alte Weise.

Statue Göttin IsisPlutarch (griechischer Schriftsteller, * um 45 n. Chr. † um 125) erwähnt in seiner religionsphilosophischen Schrift „Über Isis und Osiris“ eine Statue: Das verschleierte Bild zu Saïs.

„In Sais hatte das Standbild der Athene, die man auch für die Isis hält, folgende Inschrift «ich bin das All, das Vergangene Gegenwärtige und Zukünftige, meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet.»

— Plutarch

Isis verfügt über starke spirituelle Kräfte und ist ihrem Wesen nach eine sehr aktive Göttin, währenddessen Maria eher passiv in Erscheinung tritt. Dies aber ist vielleicht der Verdrängung vom Bild einer Gottesmutter geschuldet.

Aleister Crowley sagt über die Hohepriesterin in seinem Tarot:

Sie ist die Isis, die ewige Unschuld, …

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Die Hohepriesterin im Aleister Crowley Tarot

Wie Isis, trägt auch die Hohepriesterin einen Schleier. Crowley sieht ihn als einen strahlenden Schleier aus Licht. Weiter sagt er, das Licht ist keine Manifestation, sondern ihr verschleierter Geist.

Aleister Crowley ließ durch seine „Schülerin“, der Künstlerin Frieda Harris die Hohepriesterin als eine eher androgyn wirkende Erscheinung auftreten. Grob lässt sich das Bild in drei Teile aufgliedern. Der oberste Teil hat einen weich fließenden Charakter. Er ist von Spiralen durchzogen. In der Mitte werden die Linien geradlinig, zielführend. Auch hier finden wir das Prinzip von Yin und Yang.

Tarot-Die-Hohepriesterin-Aleister-CrowleyDieses weit gespannte Netzwerk aus Strahlen, welches gut zwei Drittel der Karte umfasst, zeigt deutlich das tiefe, spirituelle Wesen der Hohepriesterin.

Die Yin Energie findet sich zudem in der Krone der Hohepriesterin: Die bereits erwähnte Mondsichel, welche die Sonne trägt. Die Sichel ist nach oben hin geöffnet. Dahinter finden sich sieben weitere Sicheln.

Die Yang Energie der klaren Strahlenstruktur in der Mitte des Bildes wird durch die Abbildung von Pfeil und Bogen über dem Schoß der Hohepriesterin verstärkt.

Im untersten Teil des Bildes findet sich eine Oase, ein blühender Garten mit Früchten und Blüten. In der Mitte steht ein Kamel. Diese Tiere legen lange Durststrecken zurück, ehe sie wieder eine Oase erreichen und sich erneut laben können.

In diesem fruchtbaren Garten sind auch einige Kristalle verteilt, die eine Klarheit ausstrahlen, derer es bedarf, um mit allen Sinnen wahrzunehmen.

So symbolisiert die Karte der Hohepriesterin bei Crowley die Reise zum eigenen inneren Garten, der Oase, in welcher Kristalle der Klarheit dafür sorgen, dass Blüten und Früchte gedeihen. Die Hohepriesterin selbst steht kraftvoll und autark in der Mitte des Bildes. Ihre Stärke ist unverkennbar. Sie ist im eigenen Garten geerdet und doch mit der Sphäre des Göttlichen verbunden.

Hinter dem Schleier aus Licht verbirgt sie ihr Wissen. Sie trennt sich bewusst von der äußeren Welt, damit ihr Blick ungehindert nach innen gehen kann.

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Botschaften der Hohepriesterin

Das Wesen der Hohepriesterin ist hoch emphatisch und dabei äußerst tiefgründig. Sie belehrt nicht, sie lässt einfach die sich ihr innewohnenden Kräfte wirken.

Es ist nun an dir einen Raum zu erschaffen, der dich vom Außen trennt – ein Raum der so still ist, dass du deine Seele hören kannst. Komme zur Ruhe.

Schraube deinen Verstand zurück und setze auf die Kräfte deiner Intuition. Behalte deine Emotionen im Blick. Was fühlst du, was tut dir gut? Sei das ruhende Auge in einem Sturm. Das Leben dreht sich, okay. Du aber stehst jetzt mal still und lässt dich nicht mitreißen. Sei still und lausche. Suche deine innere Stimme.

Auf dem kommenden Weg werden dich Botschaften erreichen. Sie können ganz plötzlich auftauchen. Manche findest du in stiller Meditation, andere sprechen über deine Träume zu dir. Achte auf Botschaften.

Die tiefe Verankerung der Hohepriesterin in der alten Magie kann auch deine spirituellen Wurzeln freilegen. Vielleicht entdeckst du auch seherische oder telepathische Fähigkeiten in dir. Vertraue der Wahrsagung.

Übernimm die Führung in deinem Leben. Du kannst jemanden suchen, der dir zuhört, aber lasse dir keine Weisungen geben. Die Schriftrolle ist geschlossen. Lass dich nicht belehren, sondern lerne aus dir selbst heraus. 

Dies gilt auch umgekehrt, belehre auch du nicht. Umgib dich mit Menschen, zeige deine Emotionen, sei mitfühlend und verbunden. Du musst nichts beweisen. Nimm allen Druck heraus.

Das Leben ist in unserem Weltbild von der Dualität geprägt. Eine Linie mit zwei Enden. An dem einen Ende ist es hell, am anderen dunkel. Es ist warm und kalt, schön und hässlich. Schieben wir unter die Mitte der Linie ein Dreieck mit der Spitze nach oben, so wird die Linie mal zur der einen Seite wippen, mal zu der anderen. Sei das Dreieck, die ruhende Mitte.

Erinnere dich: Im Wechselspiel zur Kabbalah ist die Hohepriesterin aus ihrer eigenen Kraft heraus auf dem Weg zum höheren Selbst. Der Weg endet nicht da, wo wir gestartet sind. Veränderung steht bevor.

Halte die Balance.

Vertraue dir selbst.

Sei würdevoll.

Als Jahreskarte wird die Veränderung wohl am ehesten sichtbar. Wie der Mond wirst du verschiedene Zyklen durchlaufen. Achte darauf, vor allem als Frau. Lasse das Leben fließen und du kommst ganz gewiss an einem Punkt an, der näher am tiefen, uralten Wissen liegt. Deine spirituellen und emotionalen Fähigkeiten werden zunehmen, dein Festhalten am rein logischen Wissen wird gelockert, wenn du auf deine intuitiven Kräfte vertraust.

Die Karte kann dich auch dazu ermahnen, deinen Blick ganz kritisch auf dein eigenes Leben zu richten. Wo ist der Einfluss von außen so stark, dass du dich von deinem inneren Kern entfernt hast?

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Quellen:

Crowley, Aleister (2019), Toth Tarot: Originalausgabe (2. Aufl.).Krummwisch AGM-Urania.

Waite, Arthur Edward (01. Januar 1978), Der Bilderschlüssel zum Tarot: Erste Auflage, Urania.

Angeles Arrien (2001), Handbuch Crowley Tarot: Praxisbezogene Anleitung zur Interpretation des Aleister Crowley Tarots (4. Aufl.).Neuhausen/Schweiz Urania Verlags AG. [online: http://rkspiele.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/04/Tarot-Hanbuch.pdf. [Stand 19.02.2021]]

docplayer.org: Gerd Ziegler. Tarot: Spiegel der Seele. Handbuch zum Crowley-Tarot. (Stand unbekannt). http://docplayer.org/12116343-Gerd-ziegler-tarot-spiegel-der-seele-handbuch-zum-crowley-tarot.html. [19.02.2021]