Jörmungand – die Midgardschlange ist wohl das größte Ungeheuer der Nordischen Mythologie, schrecklicher noch, als seine Geschwister, die Totengöttin Hel und der Fenriswolf. Alle drei sind sie Nachkommen des listigen Gottes Loki und der Riesin Angrboda.
Von dieser Riesenschlange Jörmungand möchte ich dir heute berichten.
Die unheilbringende Brut
Den Göttern blieb nicht verborgen, dass Loki mit Angrboda (die Kummerbringende) diese drei Kinder zeugte und sie waren sich sicher, dass bei alledem nichts Gutes entstehen könne, wo doch auch die Seherin das drohende Unheil zu Ragnarök weissagte.
Hrym kommt von Osten, hebt das Schild vor sich,
es windet sich Jörmungand in Riesenzorn;
die Schlange schlägt Wellen, und der Adler schreit,
Tote reißt der Nasenbleiche, Naglfar ist los.
Die Weissagung der Seherin, übersetzt von Arnulf Krause.
So fackelte Odin nicht lange und ließ die Drei nach Asgard bringen. Der Wolf durfte vorerst bei ihnen leben, seine Geschichte ist hier erzählt.
Hel wurde verbannt und wurde die Herrscherin über das Totenreich.
Hel verbannte er nach Niflheim und gab ihr die Herrschaft über neun Welten. Denn sie sollte alle Wohnstätten mit denen teilen, die zu ihr geschickt wurden, und das sind die Menschen, die an einer Krankheit oder an Altersschwäche sterben.
Gylfis Täuschung, Kap. 34 (Arnulf Krause)
Die Midgardschlange
Die Midgardschlange aber warf Odin ins Meer. Dort wuchs sie so schnell, dass sie bald groß genug war, um die ganze Welt, das Reich Midgard, zu umrunden. Als dies geschah, da biss sie sich selbst in den Schwanz und es hieß, sie würde ihn erst wieder loslassen, wenn das Ende der Götter – Ragnarök – gekommen war. Ganz so war es nicht, wie wir gleich in den Geschichten noch sehen werden.
Als sie zu ihm kamen, warf er die Schlange in das tiefe Meer, das sich um das ganze Land erstreckt. Aber die Schlange wuchs so sehr, daß sie mitten im Meer um alle Länder herumliegt und sich in den eigenen Schwanz beißt.
Gylfis Täuschung, Kap. 34 (Arnulf Krause)
Übrigens nur in der Snorri-Edda ist von der Midgardschlange die Rede – die Midgardsorm (Miðgarðsormr). In der älteren Edda wird sie Jörmungand genannt, was so viel wie „gewaltiges Ungeheuer“ bedeutet, mitunter ist aber auch von „Erden-Zauberstab“ als mögliche Übersetzung die Rede.
Der Erzfeind der Schlange ist der Gott Thor. Dreimal würden sie aufeinander treffen und es wird für Beide kein gutes Ende nehmen.
Als Thor eine vermeintliche Katze heben sollte
Dieser Teil der Geschichte aus der Nordischen Mythologie findet sich in der Snorri Edda.
Einst begab sich Thor mit Loki auf Wanderschaft. Auf dieser Reise fanden sich zwei weitere Gefährten ein, die aber hier und heute nicht von Belang sind. Es begab sich, dass sie auf eine Burg auf einem Hügel trafen, in welcher der Riese Utgardloki lebte.
Dieser Riese stellte sowohl den Göttern Loki und Thor als auch einem ihrer Gefährten Aufgaben. Utgardloki aber spielte nicht fair und so verloren sie Spiel um Spiel.
Dem Gott Thor stellte Utgardloki eine Aufgabe, die auf den ersten Blick recht einfach schien. Er möge doch bitte die Katze vom Boden aufheben.
Und Thor ging zu ihr, umfaßte mit seinen Händen die Mitte ihres Leibes und versuchte, sie hochzuheben. Aber die Katze machte einen Buckel, sowie er die Hände ausstreckte. Und als er sie so lang streckte, wie er überhaupt konnte, hob die Katze gerade ein Bein, und Thor konnte diesen Wettkampf nicht weitertreiben.
Gylfis Täuschung, Kap. 46 (Arnulf Krause)
Im nächsten Kapitel der Saga löst Utgardloki selbst das Rätsel auf.
Mir erschien es nicht geringer zu sein, als du die Katze abhobst, und, um dir die Wahrheit zu sagen, alle erschraken, als sie sahen, wie du eines ihrer Beine von der Erde hobst. Denn diese Katze war nicht, als was sie dir erschien. Sie war die Midgardschlange, die um alles Land herumliegt.
Thor war wirklich sauer, anders kann es nicht bezeichnet werden und schon bald würde er sich rächen, zumindest an der Midgardschlange. Vorerst aber musste er sich gedulden, denn mit dem Geständnis war der Riese und auch seine Burg plötzlich verschwunden. Auf die Schlange aber sollte er schon bald erneut treffen.
Thors Fischzug
Schließlich sagte Hymir, sie seien so weit hinausgefahren, daß es wegen der Midgardschlange gefährlich sei, hier draußen zu bleiben.
Gylfis Täuschung, Kap. 48 (Arnulf Krause)
Thor aber wollte noch weiter auf das Meer hinaus und Hymirs Laune verschlechterte sich zunehmend. Endlich war es Thor weit genug. Er nahm eine sehr starke Angelschnur und einen ebenso kräftigen Haken, spießte den Ochsenschädel auf und warf ihn ins Meer.
Die Midgardschlange biss in den Schädel und der Haken bohrte sich fest in ihren Gaumen. Zwischen Thor und Jörmungand tobte so ein erbitterter Kampf, dass Thor beide Beine fest auf die Planken des Bootes stemmte, diese durchbrach und schließlich auf dem Meeresgrund stand.
Er holte die Schnur ein und die Midgardschlang spie ihr Gift. Als Thor die Schlange mit seinem Hammer erschlagen wollte, da schnitt der völlig verängstigte Hymir die Angelschnur durch und Jörmungand entkam. Der Hammer soll den Kopf der Schlange noch getroffen haben und es wird gerätselt, ob sie umgekommen sei, aber wie du sehen wirst, wir treffen ein Drittes Mal auf dieses Untier.
Thor war wütend auf Hymir, versetzte ihm gehörig eins mit der Faust, so dass dieser über Bord ging und nur noch seine nach oben gestreckten Füße zu sehen waren. Thor selbst watete an Land.
Soweit die Geschichte in der Snorri Edda. Auch „Die Götterlieder der Älteren Edda“ berichten von diesem Fischfang, allerdings in etwas abgewandelter Form.
Es begab sich einst, dass die Götter ein Fest halten wollen und der Gott des Meeres Ægir sollte sie bewirten. Der hatte nur wenig Lust dazu und versuchte sich damit herauszureden, dass er keinen so großen Kessel besitzt, um dem Genüge zu tun.
Der Gott Tyr erinnerte sich seines Vaters, den Riesen Hymir. Dieser besaß einen so gewaltigen Kessel, dass er gewiss ausreichend wäre. Diesem Riesen aber war nur mit List und Geschick dieser Kessel abzuschwatzen, doch Tyr und Thor wagten den Versuch.
So machten sich die Beiden auf den Weg und trafen schlussendlich auf Hymir. Bei einem gemeinsamen Mahl aß Thor so viel, dass Hymir sprach:
Wir drei werden morgen Abend
von Jagdbeute leben müssen.
Das Hymirlied, Vers 16, Arnulf Krause
Thor bot an, hinaus auf das Meer zu rudern und Essen besorgen. Und auch in der Version der Geschichte nutzte Thor einen Ochsenkopf als Köder.
Hymir und Thor zogen also wie gehabt gemeinsam hinaus aufs Meer und während Hymir an einer Schnur zwei Wale gleichzeitig fischte, machte Thor seine Schnur für einen noch größeren Fang bereit. Er befestigte den Kopf des Ochsen und warf ihn ins Meer und alsbald biss die Midgardschlange an.
Vers 23:
Tapfer zog der schnellkühne Thor
die giftglänzende Schlange herauf zum Schiffsrand;
den Hammer schlug er auf den hohen Berg des Haars,
dem gar furchtbaren, von oben, des festen Bruders des Wolfs.
Und weiter heißt es in Vers 24:
Rentier-Ungeheuer heulten und der Felsgrund dröhnte,
die alte Erde erbebte ganz.
Dann versank dieser Fisch im Meer.
Snorri also hatte, wie unschwer zu erkennen ist, seine Version die Geschichte auf dem Meer weitaus mehr ausgeschmückt, währenddessen es in der Älteren Edda die Vorgeschichte mit dem Kessel gibt. Den Kessel erhielten sie übrigens zum Schluss noch, aber das nur am Rande.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf die Worte „des festen Bruders des Wolfs“ hinweisen, denn fälschlicherweise wird oftmals behauptet, dass die Midgardschlange weiblich ist, was so nicht stimmt. Vermutlich hängt es einfach damit zusammen, dass die Schlange immer wieder automatisch mit dem weiblichen Aspekt verbunden wird.
Ein letztes Treffen zu Ragnarök
Schauen wir auf das Ende der Göttergeschichte und somit auch auf die letzte Begegnung zwischen Thor und der Midgardschlange. Zu Ragnarök verlässt sie, wie von der Seherin vorhergesagt, den Ozean, um den Himmel zu vergiften. Natürlich ist es wieder Thor, der sich ihr in den Weg stellt und ein letzter Kampf entfacht.
Flutwellen steigen auf, als die Schlange das Meer verlässt und, so heißt es, wenn sie ihren Schwanz loslässt, entsteht der Weltenbrand. Der Kampf zwischen den beiden Widersachern war erbarmungslos.
So kam es am Ende so, wie von der Seherin in dem Ersten der Götterlieder prophezeit:
Da kommt der berühmte Sohn der Hlödyn,
geht Odins Sohn, mit dem Untier zu kämpfen;
Voll Zorn schlägt er zu Midgards Beschützer,
alle Menschen müssen ihre Heimatstatt verlassen,
neun Fuß geht, Fjörgyns Sohn
sterbend von der Schlange, des Tadels frei.
Hlödyn = anderer Name der Göttin Jörd
Fjörgyn ist ein weiterer Name der Jörd
So hat Thor am Ende die Midgardschlange endlich bezwungen, aber konnte selbst nur noch neun Schritte gehen, ehe er tot zu Boden sank. So sehr war er bereits vom Gift der Jörmundgand durchdrungen, welches sie im Kampfe auf ihn spie.
Die Symbolik der Schlange
Die Symbolik hinter der Schlange ist sehr alt und auch nicht in allen Kulturen gleich. Ihr Geschlecht variiert, mal ist sie weiblich, mal männlich oder auch zweigeschlechtlich. Sie ist mit allen weiblichen Gottheiten eng verbunden. Sie windet sich um sie herum oder die Göttin hält sie mit ihren Händen.
Sie steht für das Geheimnisvolle, eine tiefe intuitive Kraft voller Rätsel. In ihr steckt die Power des Kundalini, wenn sie zusammengerollt im Wurzelchakra ruht, bereit aufzusteigen, wenn alle Chakren offen sind. Sie ist der Tod und die Zerstörung, wenn sie tötet. Sie ist das Leben und die Erneuerung, wenn sie sich häutet.
Sie ist ein chthonisches Wesen, gehört also zur Macht der Erde und steht dort insbesondere für deren Schöpferkraft. Sie ist mit den unteren Welten verbunden, aber auch mit der Zauberkraft. Manche sehen sie als Widersacher der Sonne an und verbinden sie mit teuflischen Attributen oder anderen dunklen Mächten, denken wir an die Geschichte von Zeus und der Typhon. Nach einem Kampf der Typhon mit Zeus floh nach Sizilien und Zeus warf den Ätna auf sie. Seitdem lässt Typhon den Ätna immer wieder erbeben und Feuer spucken.
Aus der kosmischen Sicht ist die Schlange der Ur-Ozean, was sich auch in der Geschichte rund um die Midgardschlange spiegelt. Manchmal trägt sie die Welt, manchmal umkreist sie diese als Ouroboros, als sich selbst beißende Schlange. Der Ouroboros kommt am Ende seiner Reise immer wieder am Anfang, also bei sich selbst an. Somit ist er eng mit dem zweiten Prinzip des Kybalions (Hermetik) verbunden: Wie oben so unten.
Die Schlange ist vielschichtig und es gibt zahlreiche Mythen – und eines Tages erzähle ich dir mehr. Für heute aber genug der Worte.
♥
Titelbild: {{PD-US}} – Thor and the Midgard Serpent (by Emil Doepler, 1905), Public domain, via Wikimedia Commons