Lilith hat viele Gesichter, hinter denen so manche Geschichte lauert. Sie ist die erste Frau, die Ur-Göttin, die Teufelin, die Dämonin – so die Erzählungen. Es heißt, sie verkörpert das urweibliche Wesen, welches die einen verteufeln, andere vergöttern. Für mich ist sie eines der vielen Gesichter der wilden, der freien Ur-Göttin (des Weiblichen).
Lilith – Eine sumerische Gottheit?
In der sumerischen Kultur finden sich möglicherweise die ältesten Hinweise auf die geheimnisvolle Lilith. Archäologen haben ein Relief aus Terracotta aus dem 2. Jahrtausend vor Christus entdeckt, das Burney-Relief. Die Forschung ist sich nicht einig, wer nun genau auf dem Bild dargestellt ist. Ist es Lilith, ist es Inanna, Anath oder Ischtar? Das Rätsel bleibt wohl ungelöst, doch nehmen wir einmal an, es handelt sich wirklich um Lilith. So trägt sie auf diesem Bild eine vierfach gehörnte Krone, die nur Göttinnen bestimmt war. Eine gehörnte Krone – ein Schelm, wer dabei an eine Verbindung zum Teufel denkt?
Eingerahmt wird das Bild durch zwei Eulen, mächtige Wesen des Wissens und der Weisheit. Unter den Füßen der Göttin der Löwe, ebenfalls Status“symbol“ alter Gottheiten. So auch ihre nach unten zeigenden Flügel, welche deutlich zu erkennen sind. Die Haltung der Flügel ist typisch für Gottheiten aus der Unterwelt. Die wahren, die großen Göttinnen, egal ob aus Unter- oder Oberwelt, konnten allesamt fliegen, durch Raum und Zeit, aber auch über deren Grenzen hinaus in alle Welten hinein.
Sie trägt Ring und Stab, beides Zeichen einer Herrscherin.
Lilith ist rein, sie ist unverfälscht und in ihrem Sein ganz klar. Dies wird durch ihren nackten, erhobenen Körper zum Ausdruck gebracht.
Ihre Füße gleichen Krallen, wie die eines wilden Vogels – vogelfrei kommt mir da in den Sinn.
Das Geistermädchen „kisikil lila“
In der Mythologie des alten sumerischen Reiches heißt es, ein Geistermädchen namens „kisikil lila“ hat sich im Hulupu, im Weltenbaum eingenistet. „kisikil lila“ bedeutet „junge Geisterfrau“.
Die Geschichte findet sich in dem Erzählband „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt“. Sie steht auf auf der letzten Tafel, Tafel XII, des babylonischen Gilgamesch-Epos. Sie gehört aber nicht direkt zum Epos, sondern ist von diesem abgespalten – wobei jedoch Erzählungen aus dem Epos in die Geschichten einfließen.
In einem Teil wird die Geschichte von der sumerischen Göttin Inanna und dem Huluppu-Baum erzählt, in dem eben jenes Geistermädchen wohnte.
Aus dem Namen „kisikil lila“ wurde in einer späteren hebräischen Übersetzung Lilith. Im Huluppu wohnte ebenso der Anzu-Vogel und eine Schlange.
Die große sumerische Göttin, Inanna genannt, ließ den Baum spalten. Fortan war das Geistermädchen heimatlos und „kisikil lila“– also Lilith – somit auf der Flucht, mal zu Luft, mal auf der Erde wandelnd.
Inanna und der Huluppubaum
(frei nacherzählt)
Zu einer Zeit, als die Welt gerade erst erschaffen war, pflanzte die Göttin Inanna den Weltenbaum in ihren heiligen Garten. Er war noch nicht so groß, wie er es einst sein würde, aber die Göttin hatte ihre Pläne schon gefasst: „Eines Tages werde ich aus diesem Weltenbaum meinen glänzenden Thron und mein glänzendes Bett fertigen.“
Zehn Jahre wuchs der Baum zu einem wahren Prachtexemplar. In die oberen Äste, die den Himmel berührten, hatte der Vogel Anzu sein Nest gebaut. In den Wurzeln hatte eine Schlange ihr Heim. Im Stamm aber lebte die Göttin Lilith – kisikil lila, die junge Geiserfrau. Inanna sorgte sich deswegen, weil Lilith mit den Mächten der Luft- und der Unterweltsgötter gesegnet war.
Als sie aus dem Baum ihre göttlichen Insignien anfertigen lassen wollte, bat sie die Wesen, den Baum zu verlassen. Sie dachten aber nicht im Traum daran, dies zu tun und Inanna hatte noch nicht die Macht sich gegen die starken, göttlichen Kräfte zu wehren. Inanna wurde trübsinnig und grübelte.
Sie kam zu dem Entschluss, dass ihr Bruder, der Sonnengott Utu stark genug sei, um ihr zu helfen. Als er, wie jeden Morgen, seine Reise um die Erde antrat, erklärte Inanna ihm das Problem und flehte ihn um Hilfe an.
Utu nahm seine bronzene Axt und ging in den heiligen Garten zum Baum. Die Schlange weigerte sich weiterhin zu gehen und Utu erschlug sie. Der Vogel Anzu floh mit seinen Jungen in die Berge des Himmels und baute dort ein neues Nest. Lilith zerstörte selbst ihr Heim und floh in ein unerschlossenes Gebiet, wo niemand sonst lebte.
Utu fertigte aus dem Baum Thron und Bett und Inanna strahlte vor Glück – sie hatte den Platz in der Götterwelt eingenommen, der ihr gebührte.
Lilith – Die erste Frau Adams?
Im Talmud findet sich eine andere Geschichte der Lilith. Dort ist sie eine Göttin, eine Titanin und die erste Frau an Adams Seite. Wie in allen patriarchalen Glaubenssystemen hat die Frau sich dem Manne zu unterwerfen, sexuell und überhaupt. Nicht aber Lilith!
Lilith erinnerte sich ihrer Wurzeln, stand vollkommen in ihrer weiblichen Kraft. Auf dieses Spiel würde sie nicht eingehen, denn wer hier verliert, war ihr vollkommen klar. Sie wollte nicht des Mannes Untertan sein, sondern seiner ebenbürtig. Mann und Frau im kosmischen Gleichgewicht. Adam aber lehnte ihre Bedürfnisse ab. Lilith schwor sich: Kein Mann stehe je über ihr! Selbstermächtigt entscheidet sie über ihr Schicksal und hat den Mut alle Konsequenzen zu tragen, derer vieler folgen sollten.
Als Adam also ihr die angemessene Position verweigerte, blieb Lilith nur die Flucht, da eine Unterordnung nicht Frage kam. Mit sich nahm sie die Goldenen Schicksalstafeln, auf denen der geheime Name des Herrn „Shem Hemmeforasch“ stand. Die Tafeln verliehen ihr Macht so heißt es, so viel Macht, dass sie Gott selbst Flügel für sich abverlangte.
Adam fiel auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihm doch helfen und Gott half. Er schickte Sanvi, Sansanvi und Semangelaf, drei Engel. Sie sollten die goldenen Tafeln des Schicksals zurück zu Adam bringen.
Lilith aber hatte andere Pläne. Ihre Flucht endete fürs Erste am Roten Meer. Dort vereinigte sie sich den Erzählungen nach mit dem Dämonen Djnii und gebar eine Schar an Kindern. Gott, so heißt es, war jedoch außer sich vor Zorn und tötete die Kinder allesamt. Fortan war Liliths Mutterherz zerrissen und sie selbst dem Wahnsinn verfallen. Der Talmud indes wandelt sie zur Kindermörderin, zur Dämonin.
Adam indes bekam was er wollte, eine ihm ergebene Eva, bereit auf dem Rücken zu liegen. So war es wohl ein Kinderspiel für Lilith sich in eine Schlange zu verwandeln und Eva die Äpfel vom Baum der Erkenntnis schmackhaft zu machen.
Nun der Rest der Geschichte ist bekannt, immerhin beruht auf ihr bis heute das religiös verdrehte System der Schuld und Sühne.
Eva und Lilith und die Last der Frauen
War es der Schmerz, die Wut und der Wahn der Lilith, welcher dazu verführte Eva den Apfel der Erkenntnis zu reichen? Mag sein, wenngleich mir dies nur allzu menschlich erscheint. Lilith indes war kein Mensch, sie war göttlich.
Vielleicht war es ein Akt der Solidarität, über die Fängen der Eifer- und Rachsucht hinaus. Der Apfel vom Baum der Erkenntnis.
Ist es möglich, dass Lilith versuchte Eva zu retten, ihr Erkenntnis zu schenken? Eva selbst an ihre weibliche Kraft und Stärke zu erinnern? Sie an die nötige Polarität zwischen Mann und Frau zu erinnern? Und sollte sie, wenn sie schon bereit war, sich dem Manne unterzuordnen nicht wenigstens ihre Erkenntnisse behalten dürfen – oder auch erstmalig erlangen?
Was tat Gott, als Eva den Apfel nahm, sie sich für die Erkenntnis entschied? Er strafte sie, so steht es geschrieben. Er verfluchte sie für alle Zeiten. Der Platz im Paradies war verspielt und die Last der Sünde wog schwer.
Straft Gott jene weiblichen Wesen, die einander unterstützen, die Erkenntnis und Wissen anstreben oder wurden die Schriften durch niedere, rein menschliche Interessen verdreht? Sind wir nicht auch heute noch bemüht uns aus diesen Gefängnissen des Ungleichgewichtes zwischen Mann und Frau zu befreien, uns selbst als Frauen zu erkennen, einander wahrhaftig zu erkennen und die Hand im Bunde zu reichen?
Die Lilith in dir
Nur zwei der möglichen Geschichten stehen im Raum und mit ihnen die wilde Kraft dieser Urgöttin. Wieviel dieser Urkraft schlummert in dir?
Wie Eva beugen wir uns nur allzu oft. Unterwerfung ist fast schon ein Wesenszug, eine zweite Haut, aus der viele Frauen sich kaum herausschälen können. Wir unterdrücken unsere eigene innere Kraft, wie stecken zurück, stapeln unsere Kompromisse, geißeln unsere Lust.
Die Kraft der Lilith ist rot, ein dunkles, tiefes Rot. Rot wie Blut, pulsierend , in der Power des eigenen Herzens stehend. Spüre die Wurzelkraft der Lilith, die archaische Macht. Richte den Fokus auf das Urvertrauen in das Leben, in DEIN Leben. Blicke schonungslos in den Spiegel und suche die Lilith in dir. Wo bist du noch wild, wo brennt deine Lust – die Lust auf das Leben. Die Lust der Eigenliebe, der tief verwurzelte Wunsch voller Vertrauen in die Kraft der Eigenverantwortung zu gehen.
Schmecke, rieche, fühle, ertaste, verschlinge das Leben.
Gehe den Weg deiner Ursprungskraft, gehe den Weg der Lilith. Du weißt nicht wohin du dich wenden musst? Immer, wirklich immer in die Richtung, die dein Herz nicht verkrampfen lässt. Fühlt es sich gut an, so gehe weiter. Zieht es dein Herz zusammen, so ändere den Kurs. Sei mutig, sei ursprünglich, sei unabhängig.
Spüre die knisternde Erotik deines Wesens. Ja! Du darfst widerspenstig sein, du darfst anecken und laut und wild und frei sein. Unterwerfe dich nicht, niemanden und tue es vor allem nicht dir selbst gegenüber.
Suche die tiefe Weisheit in dir, die Magie des Seins. Wo sind die Wunder des Lebens für dich versteckt?
Gehe in deine eigene Schöpfungskraft, sei du selbst die Schöpferin deiner Existenz.
Lilith, eine Dämonin – wie absurd. Sie kennt die Geheimnisse des Lebens, sie weiß um die eigene Kraft, weiß um die Macht und Magie der Frau, die sie ist. Das ängstigt andere Menschen, das versetzte Jahrhunderte lang das Patriarchat in Schrecken und führte dazu, dass es diese unbändige Kraft dämonisierte. Wir aber sind keine Dämoninnen, du bist keine Dämonin, wenn du lebst, was richtig ist. Dir nimmst, was dir zusteht – deine Bedürfnisse erkennst und auslebst. Keine Diffamierung mehr, kein Verbiegen und auch kein Verleugnen der eigenen, inneren Welt.
Sei Lilith.