Der mächtige Gott Odin ist seit jeher ein ewig Suchender. Er ist süchtig nach der Weisheit des Lebens. Auf dieser Suche fand er, vielleicht der bedeutsamste aller Götter, erst den Tod und dann die Runen. Er gab einst sein Auge und doch ist es nicht genug. Er, der Ruhelose, ist es, der die Schlacht bei Ragnarök anführt. In seinen Hallen warten die gefallenen Krieger.
Odin ist ein mächtiger Gott und sein Wort gilt bei den Göttern. Er ist nicht, wie oft zu lesen, der König der Götter, denn sie haben keinen Gott über sich. Er zeigt ihnen aber gerne den Weg und lenkt ihre Schicksale.
Wer ist dieser Gott?
Odin ist unter so vielen Namen bekannt. Es sind über 200 an der Zahl. Er ist Alföðr, Bileygr, Biflindi, Yggr, Valföðr, Óskí, Hrafnaguð, Hárbarðr und viele Namen mehr noch sind ihm zugeordnet. Eine der ursprünglichsten Formen seines Namens ist Woðanaz, (woð-altenglisch =Stimme, Lärm) – Wodan.
Sein geläufigster Name Odin – einst Óðinn – leitet sich von oðr ab. Im altnordischen ist -oðr- das Bewusstsein, der Geist, die Seele – aber auch die Poesie und der Wahnsinn. Die Endung „inn“ ist einfach nur ein Artikel – der, die, das.
Óð(r) – inn
der / die / das Odin
der Geist / die Poesie / das Bewusstsein
Dieser große Gott ist also nicht irgendein(e), sondern
DER Geist
DIE Poesie
DAS Bewusstsein
Seine Brüder sind der Wille (Vili/Wili) und der heilige Raum (Vé/Wé). Dieses Dreiergespann erschuf aus dem Leib des Ur-Riesen Ymir die Welt Midgard und mit ihr den Weltenbaum Yggdrasil.
Odin war die Heldenfigur schlechthin für all die Skalden und Geschichtenerzähler. Kein anderer Gott tauchte so oft in der Welt der Dichtkunst auf. Er hat den Menschen den geliebten Met gezeigt. Odin ist nicht nur ein Gott, er ist ein Dichter, ein Denker, ein aufbrausender Sturm in der Schlacht. Odin führt mit seiner Frau Frigg die Wilde Jagd an, wenn die Rauhnächte beginnen. Er holt die gefallenen Helden in die heiligen Hallen von Walhalla, welche er zuvor zumeist selbst verraten hat.
Odin ist ein Gott, der gerne unter den Menschen weilt und er hat im Midgard-Reich selbst so manche Sippe gegründet. Dieser Gott ist ein Zauberer, ein Magier des alten Pfades, er ist der, der die Runen fand und er ersann die Galdr-Gesänge.
Ist Odin ein Hippie der alten Zeit?
Auf den ersten Blick schaut es so aus, als würde der große Gott Odin nicht allzu viel von seinem Äußeren halten. Als Vagabund verkleidet reist er durch die Welten. Sein Bart ist lang und grau.
Sein lodernder, langer Mantel ist blauschwarz, die Farbe des Todes und der Geister. Bezugnehmend auf die nordische Tottengöttin Hel, war die blauschwarze Farbe einst auch hel-blau genannt. Trägt der Gott Odin in alten Sagen wie das Grimnir Lied diesen Mantel, so ist er in diesen als Gott des Todes unterwegs. Die Macht des Todes ist eng mit der Macht des Wissens und der Weisheit verknüpft, welche oft im Dunkel verborgen liegt.
Auf Odins Kopf findet sich zumeist ein schlappriger Hut mit breiter Krempe. Er hat auch eine Vorliebe für eine tief sitzende Kapuze, die ihm etwas Geheimnisvolles verleiht. Odin ist ein großer Gott mit nur einem Auge, doch dazu kommen wir später.
In der heutigen Zeit würden wir ihn wohl als eine Art Hippie bezeichnen, wenn er wie einst barfüßig durch die Landen streift, die gemusterten Hosenbeine flatternd im Wind. Wäre da nicht sein tödlicher Speer Gungnir, welcher nur auf den zweiten Blick als solcher zu erkennen ist. Flüchtig erscheint die gefährliche Waffe wie eine Art Wander- oder auch Zauberstab, auf welchen sich Odin auch gerne auflehnt.
In dieser Vagabunden-Erscheinung ist er auch mir auf einer schamanischen Reise begegnet, aber er kann, wenn nötig, auch in ganz andere Hüllen steigen. Dann ist der imposante Gott in seiner beeindruckenden Rüstung zu sehen, Schild und Speer fest gepackt. Er trägt einen Helm. Um den Körper die Brünne gelegt, als Panzerschutz vor seinen Feinden. Auch dies ist Odin.
Odin, stets auf der Suche nach tiefer Weisheit
Odins Dasein ist stets von seiner intensiven Suche nach tiefer Weisheit bestimmt. Ihn begleiten seine beiden treuen Raben Hugin und Munin. Er ist daher auch als Hrafnáss, der Rabengott, bekannt. Hugin und Munin sitzen auf Odins Schulter und berichten ihm alles, was sie in den Welten erspäht haben. Hugin ist der Gedanke, Munin ist die Erinnerung. Jeden Tag erkunden sie auch unsere Landen, das Reich von Midgard und erstatten ihrem Meister treu Bericht.
Was aber die Gefiederten zu erzählen haben, genügte dem mächtigen Gott aus dem Göttergeschlecht der Asen bei weitem nicht. Er wollte ALLES wissen und so begab er sich eines Tages zu Mimirs Brunnen, denn dieser Brunnen trägt ein tiefes Geheimnis in seinem Inneren.
Odins Reise zu Mimirs Brunnen
Mimirs Brunnen befindet sich an einer der Wurzeln Yggdrasils, dem Weltenbaum. Es ist die Quelle der Riesen. Jeglicher Tropfen, der in Mimirs Brunnen fällt, formt die Dinge, die schon sind. Geplante Ereignisse werden alsbald Wirklichkeit. Odin wollte unbedingt Teil dieses Wissens sein. Er wollte wissen, was das Wasser des Brunnens weiß. Die Ereignisse der Welten sehen und verstehen. Sein Verlangen nach dieser Weisheit war unermesslich stark, so dass er bereit war, einen hohen Preis zu zahlen.
Odin bat Mimir, den getreuen Hüter und Namensgeber des Brunnens, vom Quell der Weisheit trinken zu dürfen, aber dieser verlangte ein hohes Opfer. Der Hüter Mimir wollte eines von Odins Augen als Pfand. Odin zögerte nicht lange, gierig nach Wissen willigte er ein. Was bedeutet es schon halbblind zu sein, wenn er danach sehen kann, was sonst niemand sieht. Odin willigte ein und Mimir gab dem nach Wissen dürstenden aus seinem Giallarhorn zu trinken.
Nachdem der große Odin einen großen Schluck zu sich nahm, erhielt er wonach ihm dürstete. Fortan schwimmt sein Auge für alle Zeit in der Quelle Mimirs, doch dieses Auge ist nicht blind. Im Gegenteil, mit dem geopferten Auge sieht der mächtige Gott mehr als je zuvor. Alles was das Wasser der Quelle erblickt, erblickt nun auch das geopferte Auge Odins. Nun konnte er alles verstehen, die Geschicke der Welten begreifen, aber zufrieden war er dennoch nicht. Seine Suche war noch nicht am Ende.
Odin, der Vater der magischen Runen?
Wie nur konnte er noch größere Weisheit erlangen? Er streifte durch die Lande und eines Tages, ging er zu einem der Äste Yggdrasils. Er durchbohrte sich selbst mit seinem Speer und hing sich am Baume auf. Neun Tage und Nächte hing er so, wie er selbst später erzählte, am windigen Baum.
Dann fiel er herab und fand die Runen. Nur ist Odin auch der Vater der Runen? Das indes lässt sich so leicht nicht beantworten. Die Quellen, wie die Edda, schreiben ihm die Runen nicht direkt zu und der Tatbestand, dass sie zu seinen Füßen fielen, genügt nicht, um gewiss zu sagen, dass sie auch ihm entsprungen sind. Vielmehr sind es die drei Nornen, welche Runen zu ritzen wissen.
Þaðan koma meyiar
margs vitandi
þrjár, ór þeim sal,
er und þolli stendr;
Urð hétu eina,
aðra Verðandi,
– skáro á skíði, –
Skuld ina þriðio;
þær lǫg lǫgðu,
þær líf kuru
alda bǫrnum,
ørlǫg seggia.
***
Davon kommen Frauen,
vielwissende,
Drei aus dem See
dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine,
die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe;
Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose,
das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen,
das Schicksal verkündend.
Woher kommen die Runen? Eine Frage, deren Antwort wohl nur die drei Nornen, die Göttinnen und und die Götter wissen.
Woher auch immer sie stammen, Odins Weisheit war nun so umfassend wie nie zuvor. Er selbst, ein Meister der Wortkunst, schrieb das Runenlied, so steht es in der Hâvamâl.
Odins Runenlied – Ein Auszug
(aus dem Hâvamâl¹, übersetzt von Karl Simrock)
139
Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum
Neun lange Nächte,
Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, dem man nicht ansehn kann
Aus welcher Wurzel er sproß.
140
Sie boten mir nicht Brot noch Met;
Da neigt ich mich nieder
Auf Runen sinnend, lernte sie seufzend:
Endlich fiel ich zur Erde.
141
Hauptlieder neun lernt ich von dem weisen Sohn
Bölthorns, des Vaters Bestlas,
Und trank einen Trunk des teuern Mets
Aus Odhrörir geschöpft.
142
Zu gedeihen begann ich und begann zu denken,
Wuchs und fühlte mich wohl.
Wort aus dem Wort verlieh mir das Wort,
Werk aus dem Werk verlieh mir das Werk.
143
Runen wirst du finden und Ratstäbe,
Sehr starke Stäbe,
Sehr mächtige Stäbe.
Erzredner ersann sie, Götter schufen sie,
Sie ritzte der hehrste der Herrscher.
144
Odin den Riesen, den Alfen Dain,
Dwalin den Zwergen,
Alswid aber den Riesen; einige schnitt ich selbst.
145
Weißt du zu ritzen? Weißt du zu erraten?
Weißt du zu finden? Weißt zu erforschen?
Weißt du zu bitten? Weißt Opfer zu bieten?
Weißt du wie man senden, weißt wie man tilgen soll?
Das Runenlied in einer wunderschönen, vertonten Version.
Die vielen Gesichter des Gottes
Vielerlei lässt sich über Odin berichten, so dass so manche Geschichte ein anderes Mal erzählt werden muss. Drei seiner Rollen indes, sollten nicht unerwähnt bleiben. Erstere haben wir bereits kennengelernt.
Der mächtige Zauberer
Odin ist ein wahrlich großer Zauberer. Nicht umsonst war er es, der dir Runen fand. Seine größte Kunst, neben dem Lesen der Runen, ist die galdr, die Magie der Worte, wie dem Runenlied. Er formt mit den Worten die Magie. So wie die drei weisen Nornen der Urdquelle mit den silbernen Fäden der Frigg weben, so webt Odin die Magie mit der Kunst des Dichtens.
Galdr ist übersetzt das Zauberlied. Odin trägt auch den Namen galdrs faðir, der Vater der Zauberlieder. Er ist der Größte aller Zauberer in der alten germanischen Welt und doch ist diese Seite von ihm nur wenig bekannt.
Odin, der Gott, der über die Toten bestimmte
Viele Schlachten wurden in der einstigen Zeit gekämpft. Odin hat in jeder eine tragende Rolle. Er ist kein großer Krieger, wenngleich er vermutlich einer sein könnte. Er bestimmt vielmehr, wer in einer Schlacht zu Tode kommt.
Indem er ganz klar festlegt, welche Männer dem Tod geweiht sind, bestimmt er zugleich, welche Seite eine Schlacht gewinnt oder verliert. Einst, so heißt es, warfen die Krieger einen Speer über das gegnerische Schlachtfeld und riefen: „Odin soll euch alle bekommen!“
Odin, der Vater der Wünsche
Ein weiterer Name des Gottes ist Oski, der Wunsch. Er hat mitunter eine fast schon gütige Seite und gewährt gerne einmal einen Wunsch. Das lässt ihn doch gleich ein bißchen weniger finster erscheinen, oder nicht? Zudem stellt sich Odin an guten Tagen seinen Erwählten mit Rat zur Seite. Hört, hört!
Einst erschien er dem norwegischen Olaf dem Dicken als Geschichtenerzähler. Das erzählen seiner Geschichten lief soweit ganz gut, bis Odin ihm anbot ihn zu segnen. Da schleuderte der dicke Olaf sein Gebetbuch nach dem belustigten Gott.
Hast du einen Wunsch, so versuche einmal dein Glück, aber sei stets auf der Hut. Du weißt nicht, welchen Preis der Gott verlangt.
Die Ehrung von Odin
Mit Odin zu arbeiten ist keine leichte Aufgabe. Er verlangt viel von seinen Anhängern. Nicht wenige seiner treuesten Gefolgsmänner wurden durch den Gott selbst zum Tode bestimmt. Möchtest du etwas von ihm, so sei gewiss, dass er prompt eine Gegenleistung erwartet. Er zögert selten und nimmt sich auch schon einmal das, was dir lieb und teuer ist.
Sahen die Menschen ihn einst, so wussten sie, der Tod ist nah. Odin holt sich, wen er haben möchte. Er ist oft bei den Menschen, sucht sich seine Krieger für Ragnarök. Nach ihrem Tod gibt es keine Ruhe, denn Odin lässt sie leiden bis aufs Mark. So versucht er sie für die letzte Schlacht stark zu machen.
Die Bauern fürchteten ihn. Sie wussten, dass er mit der Wilden Jagd in den Rauhnächten um die Häuser zieht. Eine Schar furchterregender Geister im Gepäck. So ließen sie bei der Ernte stets die letzte Garbe stehen, damit sich Odins achtbeiniges Pferd Sleipnir – ein Geschenk von Loki – daran stärken kann. Vielleicht hätte der Einäugige ja dann ein Nachsehen und wer weiß, vielleicht beschert er ihnen auch im nächsten Jahr eine noch größere Ernte.
Für den Preis der Weisheit ist Odin immer hart zu sich selbst und so ist er auch hart zu seinen Kindern.
Odin ist ein Gott der Extreme. So unnachgiebig wie er sein kann, so sehr liebt er es dennoch ekstatisch zu feiern. Er kann Freude teilen, und wie bereits erwähnt, auch Wünsche erfüllen. Versuche es einmal, vielleicht in Verbindung mit der Rune Wunjo.
Mit Odin an der Seite sind die Wege oftmals einsam. Der Geist ist ruhelos und der Abgrund des Todes stetig nah. Die Anhänger des Gottes müssen alles geben um die neue Welt zu erreichen.
¹) Hâvamâl