Es war an einem Freitag den Dreizehnten. Ich war gerade mit meiner Doppelschicht fertig. Dreizehn Stunden feinstes Aprilwetter mitten im Mai lagen hinter mir. Ich wollte nur noch nach Hause. Eine heiße Dusche, ein warmes Essen und einen zarten Blick von meiner Frau.

Mit gesenktem Kopf lief ich über den Asphalt. Die dicken Tropfen des Regens gaben ein faszinierendes Schauspiel ab, dass ich aber nicht so recht zu würdigen wusste. Mein Blick erhaschte etwas was nicht sein sollte. Ich begriff nicht sofort, aber dann dämmerte es in meinem Kopf!

 

Warum begehen Regenwürmer so gerne Selbstmord?

Das war die erste Frage, die mich an diesem Abend nicht so leicht wieder loslassen wollte. Am Boden wand sich ein todesmutiger Regenwurm. Was sollte ich tun? Eingreifen und meinem Impuls folgen, den Wurm von der Straße glauben und ihn somit retten?

Ich konnte dem Drang ein Leben zu retten nicht widerstehen und nahm den Wurm mit bloßen Händen. Es gruselte mich ein wenig. Diese nackte, kalte Haut bildete einen unangenehmen Kontrast zu meiner warmen Hand. Ich spürte wie der Wurm sich wand und eilte schnell zur nächsten Wiese. Ich suchte ein dunkles Plätzchen und erklärte dem Wurm feierlich, dass er nun schnell in das Erdreich zurück kehren solle, der Himmel reiße schon auf.

Warum tue ich das? Sollte ich überhaupt eingreifen, wenn der Wurm doch unbedingt mitten auf der Straße lang kriechen möchte oder störe ich damit den Lauf der Natur?

Meine Freundin Melancholia ist so dünnhäutig, dass niemand sie je erblicken konnte. Sie begleitet mich manchmal meines Weges. So flüsterte sie mir auch an jenem verhängnisvollen Tag in mein Ohr, dass es schon mitunter etwas sinnlos sein kann etwas gut zu meinen. „Nun ja, wenn Du Deine Zeit nicht sinnvoller zu nutzen weißt.“

Ich hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Sie ist immer so furchtbar destruktiv. So badete ich mich lieber in der tröstlichen Vorstellung, dass es sein kann, dass ich selbst einmal Hilfe bekomme werde, wenn ich einmal in einer ähnlich ausweglosen Situation stecke wie dieser Wurm jetzt. Jemand würde kommen und so selbstlos und heldenhaft sein wie ich. Würde stehen bleiben und sich um mich kümmern, mich in seine warmen Hände nehmen und mich in ein paradiesisches Leben tragen. Er trägt mich an einen sicheren geborgenen Ort, währenddessen mir klar wird, dass ich ohne seine Hilfe nicht überlebt hätte.

Ehrlich, ich konnte beim besten Willen nichts auf dieser Straße erkennen, was dem Wurm von Nutzen wäre!

Er hätte dort weder Futter, noch Erde, noch Artgenossen gefunden.

Warum hat er sich auf dem nassen Asphalt nicht umgedreht und ist von selbst zur grünen Wiese zurück gekrochen? Hätte sich an ihrem satten Grün gelabt und den Duft des frischen nassen Erdreichs eingesaugt?

„Wer bist Du, dass Du für den Wurm entscheiden kannst? Schon einmal darüber nachgedacht, dass es für ihn vielleicht das Höchste ist endlich im strömenden Regen dem Dunkel des Erdreiches zu entfliehen um einmal in Freiheit das Tageslicht zu erblicken? Mag sein das es die letzten Stunden seines Lebens sind, doch vielleicht ist es sein glücklichster Moment und der Nutzen unermesslich für ihn!“

Melancholia nervt, aber was wenn sie recht hat.

Es war höchst vermessen. Wie dumm ich doch bin. Ich weiß so gut wie nichts über Regenwürmer. Was weiß ich denn, was er fühlt und ob ich ihm nicht seines höchsten Glückes beraubt habe.

Weiß der Wurm, dass er es nicht schafft den ganzen Weg zurück zu kriechen, bevor die Sonne hervorbricht und das Wasser zum Verdampfen bringt, so dass er eines elenden Todes sterben muss? Nun, vermutlich weiß er es. Er hält sich ja auch sonst bedeckt und weiß die Sonne durchaus zu meiden. Sicher hätte ihre Hitze ihn ausgedörrt oder er wäre überfahren worden. Seine Leiche hätte Ameisen zerlegt und verschleppt. Das hätte er doch wissen müssen!

Es ergibt einfach keinen Sinn und doch habe ich in meinem Leben schon unzählige Würmer elend sterben sehen. Seit ich denken kann versuche ich immer wieder ein paar von ihnen zu retten. Die Zahl der Würmer, welche ich nicht retten konnte und sterben ließ, scheint endlos. Allein all jene, die an jenem Abend wohl noch meinen 10 Minütigen Fußweg gekreuzt hatten. Wieviele von ihnen hätte ich retten können, wenn ich nicht resignierend versucht hätte alle weiteren suizidalen Würmer zu ignorieren, nur um endlich nicht mehr zu frieren und die schmerzenden Füße hochzulegen.

Noch eine andere Frage haftete sich wie eine Klette in meine Gehirnwindungen. Sie ist gänzlich anders und doch sehr ähnlich.

Im Licht betrachtet finden sich sogar erstaunlich viele Parallelen zu den Würmern.

 

Was ist der Sinn der Menschheit und vor allem der Sinn ihres Unterganges?

Dies ist eine ganz wesentliche und grundsätzliche Frage die ja wohl mal gestellt werden dürfe. Sie erkundigt sich nach der Art, wie der Mensch sich verhält. Der Sinn der Menschheit und vor allem ganz speziell dem Sinn des Untergangs der menschlichen Art. Die Frage nach dem ganz großen WARUM?!

Ich könnte es auch die Frage nach dem ganz Grossen Wurm nennen. In der Tat ist es der Größte, den die Menschheit jemals gesehen hat.

Der Mensch hat doch so prinzipiell die freie Wahl oder nicht? Warum gestaltet er die Welt, nur weil er es kann, zu seinem Verderben? Wieso gibt es Gewalt, Zerstörung und Krieg? Warum gibt es diese himmelschreiende Ungerechtigkeit? Warum ist es nicht möglich, alles zu verbieten, was einem anderen Lebewesen, egal welchem, Schaden zufügen würde?

Wäre es möglich, dass wir unseren Besitz teilen, wenn wir genug haben? Warum ist es nicht verboten, Geld aus blutverschmierten Quellen anzuhäufen? Aus welchem Grund wird das nicht gerecht an die Armen verteilt? Im Ernst niemand kann mit ehrlicher Arbeit jemals so viel Geld verdienen, dass er sich mehr als drei Häuser und drei Autos leisten könnte!  Warum akzeptieren wir einander nicht so wie wir sind? Ja und dabei spielt es keine Rolle welcher Nationalität oder welcher Religion wir angehören. Es ist unerhelbich welcher Art wir sind, welches Alter wir haben und welches Geschlecht!

Unterschiede zu ziehen zwischen Mann und Frau, Transsexuellen, Queers, Lesbischen, Schwulen oder sonstigen Personen ist verrückt! Uns sollten keine Grenzen trennen.  Wir sollten einander respektieren und helfen.

Warum ist Recht käuflich? Warum gelten Menschenrechte nicht weltweit? Warum haben Tiere fast gar keine Rechte? Warum essen wir unschuldige Lebewesen und quälen sie auf brutale Weise?

Warum zerstören wir Wälder und Felder, die uns Nahrung und Leben spenden? Warum vergiften wir unser eigenes Wasser? Warum wird jemand umgebracht, weil er die Wahrheit sagt? Warum wird jemand als Präsident bezeichnet, der lügt? Warum werden Mörder als Kriegshelden gefeiert? Weshalb leben wir Menschen in einer korrupten, gewalttätigen Welt? Warum ist es legal die Umwelt zu zerstören? Warum darf in Kriegen gemordet werden?

Weshalb sind Ausbeutung, Kinderarbeit und Prostitution Alltag auf der ganzen Welt?

Warum rennt die gesamte Menschheit einem einzigen Ziel entgegen? Ihrem eigenen Ende!

Warum halten wir nicht inne, obwohl wir längst wissen, was wir ändern müssten, um die Welt zu retten? Warum kämpfen wir nicht für ein Leben in einer friedlichen, gesunden und gerechten Welt.

Warum ist das Glück des Lebens uns nicht genug? Warum genügt uns nicht die Schönheit dieser schützenswerte Erde? Warum wollen wir immer höher hinaus, um jeden Preis, bis unsere Flügel in der Sonne verbrennen?

Der Mensch nimmt sich immer so wichtig. Er ist so klug, er müsste es doch wirklich besser wissen und doch verhält er sich kein bisschen anders als der Wurm, der sich zu meinen Füssen wand auf dem noch regennassen Asphalt in dessen Pfützen sich schon die ersten todbringenden Sonnenstrahlen spiegelten.

Glaubst du nicht auch, dass da der Wurm drin ist?

Ich für meinen Teil lief noch einmal zum Asphalt zurück. Ich hob noch einige Würmer auf. Nicht, weil ich so die Welt rette und auch nicht, weil ich dadurch besser bin, sondern einfach weil ich so ein Mensch bin. Ich bin so und ich möchte in einer Welt leben, in der es Menschen gibt, die so etwas tun.


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